«Ihr müsst euch entscheiden, was Biolandbau genau ist!»

22. Juli 2021

Für Bio Suisse und für die Genossenschaft Biofarm war er Geburtshelfer. Beide hat er mitgestaltet und zum Erblühen gebracht: Der Berner Werner Scheidegger war prägend daran beteiligt, die Fundamente für die gesamtschweizerische Anerkennung des Biolandbaus, für dessen Richtlinien, Organisation und Werte zu legen.

Im Gespräch mit dem Bio-Pionier Werner Scheidegger erfahren Sie mehr über die Anfänge von Bio Suisse und über die Genossenschaft Biofarm. Biofarm ist ein wichtiger Teil der Geschichte, denn die Genossenschaft ist eines der fünf Gründungsmitglieder von Bio Suisse.

Bio Suisse und die Knospe – wie kam es dazu, wie gestalteten sich die Anfäge?
Werner Scheidegger: 1971, zehn Jahre vor der Gründung von Bio Suisse 1981, hatte Hans Müller, damaliger Präsident der AVG (Anbau und Verwertungsgenossenschaft), beim Bundesamt für Gesundheit den Antrag gestellt, Bio auf den Produkten deklarieren zu dürfen und so gegen Missbrauch zu schützen. Die AVG war damals mit ihrem Paketversand und als Lieferantin von Biotta und Biofamilia für Bio bereits ein Begriff. Eine hochkarätige Kommission befasste sich mit dem Antrag und kam zwei, drei Jahre später zum Schluss, dass der Begriff «biologisch» in Zusammenhang mit Lebensmitteln zu verbieten sei. Das hat uns alle aufgeschreckt…

… und zum Handeln veranlasst?
Das Forschungsinstitut für Biologischen Landbau FiBL, 1974 noch blutjung, trommelte die damaligen Bio-Organisationen Demeter, Biofarm, Bioterra und Progana zusammen. Unter dem Präsidium von Otto Schmid erarbeiteten wir unsere ersten gemeinsamen Richtlinien. Deren erste Fassung beruhte weitgehend auf denjenigen von Biofarm.

Werner Scheidegger

DerBio-Landwirt von Madiswil BE (*1936), gehört zu den Gründungsmitgliedern von Biofarm und von Bio Suisse. Von 1972 bis 1998 leitete er die Genossenschaft Biofarm in Kleindietwil BE als Präsident, viele Jahre zudem als Geschäftsführer. Von 1981 bis 1993 präsidierte er den Dachverband Bio Suisse (Damals noch VSBLO – Vereinigung schweizerischer biologischer Landbauorganisationen). Sein beruflicher Weg begann auf dem Bildungsinstitut Möschberg, als dessen Leiter kehrte er zwei Jahre vor seiner Pensionierung zurück. Publizistisch war Werner Scheidegger von 1989 bis 2004 als Redaktor der Zeitschrift «Kultur und Politik» (Bioforum Schweiz) tätig und steht als Autor hinter zahlreichen Veröffentlichungen. Fünf Bücher sind im Eigenverlag von ihm erschienen.

Biofarm hatte damals schon Richtlinien?
Beat Müller, der Sohn von Hans Müller, war Anwalt und für die Gründung der Genossenschaft wie auch für die Erarbeitung der Richtlinien ausschlaggebend. Er war uns von Anfang in den Ohren gelegen. Ich erinnere mich genau, wie ich mit Kollegen in seinem Büro sass. «Ihr müsst euch jetzt mal entscheiden, was Biolandbau genau ist», insistierte er. Unsere stotternden Argumente, dass wir keinen Kunstdünger, keine giftigen Mittel verwendeten, kanzelte er ab. Das sei juristisch keine Definition.

Wie ging es weiter und welche Rolle spielte die Knospe?
Fünf Jahre später, am 20. Oktober 1980, waren wir endlich soweit und präsentierten das gemeinsame Werk an einer Pressekonferenz. Jetzt waren wir wer! Die Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz übernahm das Patronat und reichte unsere Richtlinien beim Bund ein. Wieder wurde eine Kommission eingesetzt. Es dauerte dann noch ein paar Jahre, bis die eidgenössische Bioverordnung stand…

Nach unserer Medienveranstaltung stellte im Gespräch plötzlich jemand die Frage, wie man jetzt als Käufer am Produkt erkennen könne, ob es Bio sei? Der erste FiBL-Direktor, Hardy Vogtmann, schlug das schon etwas bekannte Logo des FiBL – die Knospe – als Markenzeichen vor. Ich fasste den Auftrag, mich schlau zu machen, wie man diese Knospe schützen könne. Dazu fuhr ich nach Bern. Auf einer Kanzlei empfing mich ein Herr Dr. Zimmerli. Wer wir seien, wollte er wissen. «Fünf Organisationen, aber ohne Statuten und rechtliche Struktur», stammelte ich. Wer von uns denn diese Knospe brauche? Erneut musste ich überlegen. Biofarm wäre die einzige gewesen, die sofort Interesse gehabt hätte, Demeter hatte bereits ein Label, Bioterra war keine Handelsorganisation, FiBL auch nicht, und Progana war erst gerade im Werden. «Wenn ihr einen Verein gründet, der dieses Logo anmelden will, dann können es alle nutzen, riet Herr Zimmerli. So gründeten wir 1981 die VSBLO, den Verein Schweizer Bio-Landbau-Organisationen, später umbenannt in Bio Suisse.

VSBLO war ja auch ein hübscher Zungenbrecher!
Ja (lacht). Beat Müller erstellte uns den Statutenentwurf zur Bildung einer Dachorganisation. Der Entwurf kam aber bei der Aufsichtskommission nicht durch. Als einzigen Vereinszweck anerkannte sie den Schutz der Knospe.

Und Sie wurden Präsident dieses Vereins, VSBLO – später Bio Suisse.
Einer musste es machen; wie der Winkelried nach dem Motto «Wele het mi gschupft?» Und ich war ja nicht allein!
Anmerkung der Redaktion: 1997 wurde aus der VSBLO übrigens die Marke Bio Suisse

Auch bei der Gründung von Biofarm waren Sie ja schon dabei.
Das war zehn Jahre zuvor. Ich kam aus der Jungbauernbewegung, dem heutigen Bioforum. Hans Müller, Biologe, Sekundarlehrer und Nationalrat und wichtiger Intiant der Bio-Bewegung, hatte 1926 von seiner Partei, der damaligen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, den Auftrag erhalten, die Schulung der jungen Generation zu übernehmen. Mit seiner Frau Maria Müller-Bigler und zusammen mit dem deutschen Arzt Hans Peter Rusch legte er im Schulgarten auf dem Möschberg das Fundament zum heutigen Biolandbau.  Nach dem Tod von Maria Bigler 1969 entstand eine grosse Lücke. Wir wurden uns bewusst, dass sie die treibende Kraft im Schatten ihres Mannes gewesen war. Weil Hans Müller trotz seines hohen Alters weder seine Nachfolge noch diejenige für seine Frau geregelt hatte, waren wir jungen Bauern uns einig, die Zukunft des Biolandbaus selbst an die Hand nehmen zu müssen.

Wie haben Sie den Weg zu einem zukunftsträchtigen Biolandbau geebnet?
Die giftfreie Unkrautbekämpfung war schon damals ein grosses Thema. Wir machten uns dran, die Abflammtechnik weiterzuentwickeln. Wir suchten auch nach möglichen Absatzwegen für Bio-Milch und Fleisch. Das erste schien umsetzbar, für das zweite galt es, gesetzliche Vorschriften zu beachten. Deshalb wandten wir uns an Beat Müller, der zur Gründung einer Genossenschaft riet. Am 8. Mai 1972 fanden sich in Herzogenbuchsee die Gründungsmitglieder ein. Die ersten Statuten wurden genehmigt, der erste Vorstand gebildet. Büro und Lager der jungen Biofarm waren auf meinem Hof in Madiswil, und ich übernahm das Präsidium.

Konnten Sie die Erfahrungen mit Biofarm später auch für Bio Suisse nutzen?
In beiden Organisationen hatten wir es mit ganz unterschiedlichen Leuten zu tun. Für die Bio-Bauern war ich der Händler von Biofarm, und für die Händler war ich der Bauer. Ich verstand beide Sprachen einigermassen. Es gab auf beiden Seiten viel Aufklärungs- und Erklärungsbedarf. So kam zum Beispiel an einer Hauptversammlung der VSBLO in Lausanne ein Antrag, etwas auf den Verpackungen zu ändern. «Denkt dran, der Lizenznehmer muss zuerst eine Etikette drucken und da ist noch viel beschriftete Ware an Lager; ihr könnt nicht von einem Tag auf den anderen etwas anderes beschliessen», sagte ich den Bauern. Auch die Mengen verursachtenProbleme: Als der Einkäufer eines Grossverteilers nach 1000 Bio-Hühnerbrüstchen fragte, war zu erklären, dass ein Huhn nicht nur aus Brüstchen besteht. Im Konventionellen war das kein Problem, da gibt es immer Abnehmer für den Rest. Nicht aber im Bio. Und als Manor mal Gerste aus der Region Basel wollte und ich mich bei der Gerstenmühle Lützelflüh erkundigte, wurde ich ausgelacht: «Bis wir die Maschine eingestellt haben, ist das Wenige bereits in der Maschine verschwunden», so die Antwort. Wir mussten alle zuerst lernen...

Was bereitete Ihnen als Präsident von Bio Suisse die grössten Schwierigkeiten?
Dass die AVG nicht mitmachen wollte, hat mich sehr beschäftigt. Erst als ihr Präsident Hans Müller gestorben war, kam sie dazu. Die Ausgrenzung durch Hans Müller hat mich sehr belastet, weil ich ihm auch viel verdanke. Worauf er uns junge Bio-Bauern hinwies, bleibt mir bis heute ein Anliegen. Wenn einem das «Gjät» davonwächst, muss es trotzdem weitergehen, denn Bio ist mehr als Richtlinien und Kontrollen. Es ist auch eine Gesinnungsfrage.

Ein Ereignis, das Sie besonders stolz macht?
Ende der 80er-Jahre gab es in der Schweiz plötzlich zu viel Weizen. Alle Bauern mussten sich beim Abliefern Rückbehalte abziehen lassen. Ich schrieb an die Getreideverwaltung, es sei unrecht, die Bio-Bauern ebenfalls einzubeziehen. Sie trugen ja keine Schuld an diesem Überschuss, verhielten sich umweltgerecht und marktkonform. Und weil es wenig Bio-Weizen gab, mussten wir in dieser Zeit des gesamtschweizerischen Überschusses auch noch Bio-Weizen importieren! Josef Ackermann von der Getreideverwaltung hat sofort eingewilligt. Das war lange vor Einführung der Bioverordnung die erste offizielle Anerkennung des Biolandbaus auf Bundesebene – mein erstes grosses Erfolgserlebnis!

Was bleibt das Wichtigste im Biolandbau?
Die Glaubwürdigkeit. Diskussionen gab es immer. Noch bevor die Tierhaltungsrichtlinien kamen, war von artgerechter Haltung die Rede. Aber «artgerecht», was heisst das schon genau? Als der Winterauslauf eingeführt wurde, wollten die Baselbieter abspringen. Das war schwer, denn unter den Exponenten befand sich auch einer meiner engsten Vertrauten. Sie sagten, es sei nicht machbar. Es gab Betriebe, die das nicht sofort umsetzen konnten, sie waren zum Beispiel mitten im Dorf, die Weiden weit ausserhalb. Auch Weinbauern und Bergbauern hatten so unterschiedliche Bedürfnisse…

Bei wem holten Sie sich Rat in schwierigen Situationen?
Im Geschäftlichen war Beat Müller mein Ansprechpartner. Ideell orientierte ich mich an den alten Koryphäen wie Hans Müller und seiner Frau, und ich hatte stets auch in den Organisationen gute Ansprechpartner. Es kamen laufend Profis und Spezialisten hinzu – von ihnen allen konnte ich lernen. Auch wenn ich der Präsident war, gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bleiben zentral.

Was würden Sie der heutigen Generation mitgeben?
Orientiert euch am Ursprung. Stellt euch immer wieder die grundlegende Frage: Was ist das eigentliche Ziel? Wir tragen Verantwortung für Umwelt und Boden. Jeder Liter Chemie, der nicht verspritzt wird, ist positiv. Wir tragen Verantwortung für die Produkte und für die Gesundheit derer, die sie konsumieren. Das ist unser Grundauftrag.

Was wünschen Sie dem Biolandbau?
Wir waren Wenige, als es anfing. Wenn die Entwicklung so weiter geht, wird Bio Suisse mal den Bauernverband übernehmen (lacht). Für mich ist es weiterhin eine Vision, dass Bio zur Norm werden wird. Wir brauchen diese Vision, um weiterzugehen. Daran sollten wir festhalten. Als wir anfingen, gab es keine Bioprämie und viele Hindernisse. Wir haben es trotzdem gemacht. Aber es braucht nicht nur die Bäuerinnen und Bauern, es braucht vor allem auch die Konsumenten und Konsumentinnen, die sich anders verhalten und beim Kaufverhalten umdenken. Die Saumästerei auf Kosten von Südamerika kann es ja nicht noch länger sein.

Biofarm

Die Pionierorganisation und Mitbegründerin von Bio Suisse engagiert sich seit 1972 für den Biolandbau in der Schweiz. Mit ca. 750 Mitgliedern und über 600 Bio-Knospe-Betrieben trägt sie seit bald 50 Jahren zur Wiedereinführung, Förderung und Weiterentwicklung regionaler Biokulturen bei. Die Genossenschaft mit Sitz in Kleindietwil BE macht sich als Vermarktungsplattform stark für faire Abnahmebedingungen für ihre Mitglieder. Unter dem Motto «Vom Feld bis auf den Teller» bereichert die Mitgliedorganisation von Bio Suisse gemeinsam mit ihren Partnerinnen und Partnern aus Landwirtschaft, Verarbeitung und Handel die schweizweite Vielfalt an Bio-Knospe-Lebensmitteln.

Interview und Bilder: Sabine Lubow, Archiv Biofarm

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