Man kann die Risiken der neuen Gentechnik noch nicht beurteilen

06. September 2021

Eva Gelinsky beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit Bio- und Gentechnologie, Patentrecht und allen Fragen rund ums Saatgut. Was erwartet sie von vier weiteren Jahren Gentech-Moratorium?

Der Bundesrat schlägt vor, das Moratorium für die Freisetzung von genveränderten Organismen im Schweizer Gentechnikgesetz um weitere vier Jahre zu verlängern. Ist das beruhigend oder die Ruhe vor dem Sturm?
Eva Gelinsky: In seinem Vorschlag schreibt der Bundesrat explizit, er wolle in diesen vier Jahren die Entwicklung in der EU beobachten. In einer kürzlich publizierten Studie der EU-Kommission steckt klar erkenntlich der Wille, bestimmte Bereiche der neuen Gentechnik vom Gesetz auszunehmen. Nun wird bei uns – wie bereits in der EU – ein heftiger Streit los­gehen um das künftige Gentechnikrecht. Sollte es in der EU Ausnahmen geben, wird die Schweiz voraussichtlich nachziehen. Insofern sind diese vier Jahre keine Beruhigung.

Wie unterscheiden sich neue und alte Gentechnik?
Die alte Gentechnik ist durch die verwendete Genkanone nicht nur ziemlich brachial, sondern auch sehr unpräzise. Man schiesst dabei Wolframkügelchen mit der neuen DNA auf die Zelle, also mit der Eigenschaft, die man einbringen möchte. Diese baut sich dann sehr zufällig – wenn überhaupt – irgendwo ein. So dauert es lange, bis man den gewünschten Effekt erreicht. Die neue Gentechnik kann mindestens gemäss Theorie bestimmte Stellen im Genom ansteuern. Dort trennt man beispielsweise mit der Genschere Crispr/Cas den DNA-­Doppelstrang auf. Die Zelle versucht, diesen massiven Schaden zu reparieren. Dabei passieren Fehler und das ist gewünscht. Denn so werden bestimmte Genfunktionen aus­geschaltet, es kommt zu einem «Knock-out».

Wozu dient ein solcher Knock-out?
Damit lassen sich zum Beispiel Oxidationsprozesse unterdrücken, eine so veränderte Kartoffel läuft nach dem Anschneiden nicht mehr braun an. Bei Schweinen führt das Ausschalten von Genen, die das Muskelwachstum begrenzen, zu sogenannten Doppelmuskelschweinen. Das unkontrollierte Muskelwachstum dient der weiteren Leistungssteigerung.


Zur Person

Eva Gelinsky doktorierte mit einer agrarwissenschaftlichen Arbeit in Geografie. Sie ist politische Koordinatorin der Interessengemeinschaft für gentechnikfreie Saatgutarbeit, ein Zusammenschluss von Biozüchtern und Saatgutinitiativen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Als selbstständige Wissenschaftlerin macht sie Recherchen zu Gentechnik und Züchtung in der Schweiz und in der EU, unter anderem für das Bundesamt für Umwelt BAFU und Bio Suisse.


Der Europäische Gerichtshof verfügte in einem Urteil von 2018, dass die neuen Gentechnikmethoden ebenfalls unter das Gentechnikgesetz fallen. Mit welcher Begründung?
Der Entscheid betont die fehlende «history of safe use». Die entscheidenden Publikationen zu Crispr/Cas erschienen 2012. Es ist ein sehr junges Verfahren. Wir haben zu wenig Erfahrung damit, zu wenige Daten und deshalb keine «Geschichte», die zeigen würde, dass das Verfahren und seine Produkte sicher sind. Dazu dient ja die Zulassungspflicht im Gesetz. Sie verlangt nach den Daten, anhand derer man das Risiko überhaupt abschätzen kann.

Es geht also um das Vorsorgeprinzip?
Ja. Gerade Anwendungen wie die «Gene Drives», das ist ein Verfahren zur beschleunigten Vererbung einer Eigenschaft, zeigen, dass das Vorsorgeprinzip zwingend ist. Damit versucht man beispielsweise die Mücken auszurotten, die Malaria übertragen. Da werden also Organismen kreiert, die nicht «nur» eine Saison auf dem Acker stehen. Einmal freigesetzt, wären sie definitiv nicht mehr rückholbar und könnten ganze Ökosysteme verändern. Man weiss noch nicht einmal, wie man da eine vernünftige Risikobewertung vornehmen soll. Man arbeitet auch an Viren, Bakterien, Mikroorganismen. Überall werden die neue Gentechnikmethoden eingesetzt.

Die Befürworter wollen die neuen Methoden vom Gesetz ausnehmen, weil sie anders als die alte Gentechnik keine fremde DNA in den Organismus einschleusen.
Doch. Es gibt auch Verfahrensvarianten, die «fremde» DNA einbringen sollen. Und auch wenn im Endprodukt tatsächlich keine fremde DNA mehr in der Pflanze sein sollte, es muss doch immer erst diese Genschere in die Zelle gebracht werden. Dabei nutzt man entweder die Genkanone der alten Gentechnik oder das Agrobakterium als eine Art Genfähre. Es kann passieren, dass sich Teile der Genschere ungewollt mit in die DNA einbauen. Wie in den Jahren 2015 und 2016, als Rinder gentechnisch so verändert wurden, dass ihnen keine Hörner mehr wachsen. Wie man erst 2019 feststellte, wurde dabei aber auch Erbgut von Bakterien, die im Verfahren eingesetzt wurden, in die Rinder «eingebaut». Man fand im Rindererbgut unter anderem vollständige Genkonstrukte, die eine Resistenz gegen Antibiotika vermitteln können.

Die Pro-Seite argumentiert zudem, die Mutationen durch die «Zellreparatur» kämen auch natürlicherweise vor.
Das Gentechverfahren kann unbeabsichtigte weitere Mutationen auslösen, die so in der Natur nicht passieren würden. Pflanzen sind ziemlich kompliziert aufgebaute Organismen. Wenn ich an einer Stelle des Netzwerks eingreife, dann wirkt sich das auch an anderen Stellen aus, was ich möglicherweise nicht einmal erkenne, weil ich das Netzwerk nur bruchstückhaft verstehe. Die Argumentation lässt also das Verfahren ausser acht und leitet davon ab, es brauche gar keine verfahrens­basierte gesetzliche Regulierung mehr, sondern nur eine produktbezogene. Wir sollen also nur noch das Endprodukt mit den bestimmten Eigenschaften anschauen. Aber der Prozess ist entscheidend, um zu erkennen, welche Risiken damit verbunden sein können.

Welche Konsequenzen hätte es, wenn die neuen Gentechnikmethoden aus dem Gesetz ausgeklammert würden?
Daraus hervorgehende Produkte bräuchten kein Zulassungsverfahren nach Gentechnikrecht mehr. Es würde keine Risikobewertung vorgenommen und kein Monitoring mehr gemacht. Man könnte die Produkte nicht rückverfolgen, wenn etwas damit schiefläuft. Es wäre ein Freipass für diese Produkte, denen einfach unterstellt würde, sie seien sicher. Eine reine Unterstellung. Denn man weiss nicht, was tatsächlich in den Pflanzen passiert.

Auch die Deklarationspflicht würde wegfallen. So könnte selbst der Biolandbau nicht gentechfrei bleiben.
Das ist so. Es gibt in Europa aber auch einen wachsenden konventionellen Landwirtschaftsbereich, der gentechnikfrei produzieren will. Auch dieser hätte keine Transparenz mehr. Nicht die Züchter, nicht die Landwirtinnen und Verarbeiter und die Konsumentinnen und Konsumenten natürlich auch nicht. Die Wahlfreiheit wäre weg. Es sei denn, man schafft vorher eigene Lieferketten, eigene Sicherungssysteme. Was natürlich mit erhöhten Kosten verbunden wäre. Das würde die Produktion für die gentechnikfreie Land- und Lebensmittelwirtschaft erschweren.

«Es braucht eine gesellschaftliche Diskussion, wie es mit der Landwirtschaft überhaupt weitergehen soll.» Eva Gelinsky

Es gibt auch Vertreter des Biolandbaus, die auf die neue Gentechnik setzen. Es brauche sie, um schneller krankheitsresistente und klimatolerante Sorten zu züchten.
Ich kann die Argumentation nicht nachvollziehen. Sie verlässt sich stark auf die Versprechen jener, die diese Verfahren patentieren lassen und nutzen, wie die grossen Agrarkonzerne Bayer oder Corteva. Die versprechen viel. Es eilt ja auch wegen des Klimawandels, der läuft und es braucht schnell Lösungen. Meine Recherche fürs Bundesamt für Umwelt BAFU zeigte aber: Aktuell gibt es in der Pipeline der Agrokonzerne nichts in dieser Hinsicht. Klima- oder krankheitstolerante Pflanzen lassen sich mit den neuen Methoden gar nicht ohne Weiteres entwickeln. Trockenheitstoleranz zum Beispiel ist eine sehr komplexe Eigenschaft, die man nicht mit der Veränderung einzelner Gene erreichen kann. Krankheitsresistenzen sind meist eine kurzfristige Lösung. Oft nutzt man sogenannte monogene Resistenzen, welche die Schadorganismen schnell durchbrechen.

Bereits die alte Gentechnik hatte versprochen, den Hunger zu besiegen, dem Wassermangel zu trotzen, Pflanzenschutzmittel einzusparen. Eingetroffen ist das nicht …
 … im Gegenteil. Der Pestizidverbrauch ist gestiegen. Es geht eben um die Systemfrage, wie es mit der Landwirtschaft insgesamt weitergehen soll. Entscheidend ist das Zusammenspiel der Faktoren, die Interaktion zwischen Boden und Pflanzen, die Möglichkeiten, die man Nützlingen einräumt, um Schädlinge zu vertilgen. So ist die Vielfalt auf dem Acker eine automatische Bremse gegen die Ausbreitung von Krankheiten. Dazu gibt es ja viele Versuche im Biolandbau.

Wie hängen Gentechnik und Pestizide zusammen?
Mit der Entwicklung der alten Gentechnik räumte die Politik den Unternehmen das Patentrecht ein. Vorher waren Patente im Pflanzenbereich nicht zulässig. Die Gentechnik war der Türöffner. Mit Gentechnik kann man Pflanzen relativ einfach herbizidresistent machen. Die Agrarkonzerne merkten natürlich: Wenn sie das patentierte Saatgut und Pestizide im Doppelpack verkaufen, ist das eine Gelddruckmaschine. Die nutzen sie bis heute. Sie bauen laufend weitere Resistenzen ein gegen Pestizidwirkstoffe, wenn andere nicht mehr gegen Unkräuter nützen. So ist das Geschäft noch lukrativer. Das Saatgut wird immer teurer mit dem Argument, es seien ja jetzt mehrere Resistenzen drin. Deshalb arbeitet man auch mit der neuen Gentechnik am alten Thema der Herbizidresistenzen.

Wie soll man ein verlängertes Gentech-Moratorium nützen?
Für ein Kräftesammeln jener, die das Gentechnikrecht in der jetzigen Form erhalten wollen. Und wir müssen bei der Frage ansetzen, welche Landwirtschaft wir in Zukunft brauchen, angesichts aller Herausforderungen. Daraus sollte sich eine Diskussion über die Züchtung entwickeln und dann landet man allenfalls bei den Technologien. Aber jetzt zäumt man das Pferd immer von hinten auf. Man fängt bei den vermeintlichen Chancen der Technologien an. Es kann nicht sein, dass man sie einsetzt, um Pflanzen und Tiere einem widersinnigen System anzupassen. 

Interview: Stephanie Fuchs, publiziert in Bioaktuell, das Magazin der Biobewegung 1/2021, Bild: zVg Eva Gelinsky

Teilen