Expertengespräch zum Welternährungstag: «Anpassung und Transformation sind notwendig»

11. Oktober 2022

Der Krieg in der Ukraine hat das Thema Ernährungssicherheit wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und ist auch am Welternährungstag am 16. Oktober von grosser Bedeutung. Catherine Pfeifer ist Ökonomin und Forscherin im Bereich Food System Science am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) und klärt wichtige Fragen rund ums Thema Ernährungssicherheit.

Catherine Pfeifer, welche Faktoren beeinflussen die weltweite Ernährungssicherheit aktuell am meisten?

Es gibt drei grosse Einflussfaktoren, die die Ernährungssicherheit beeinflussen: Es handelt sich dabei um Produktion, Konsum und um die Verteilung  von Lebensmitteln. Der Hunger, der aufgrund des Kriegs in der Ukraine in verschiedenen Regionen der Welt droht, ist beispielsweise ein Verteilungsproblem, da der Weizen nicht wie sonst exportiert werden kann. Ausserdem ist mittel- bis langfristig damit zu rechnen, dass es auch eine tiefere Weizenproduktion in der Ukraine und geringere Mengen an synthetischen Düngemitteln aus Russland geben wird. Da Russland und die Ukraine einen grossen Teil der Welt beliefern, verschärften sich die Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung in vielen ärmeren Regionen der Welt. Besonders betroffen sind vom Import abhängige Länder in Nordafrika und im Mittleren Osten. Ein Beispiel in diesem Kontext ist das Horn von Afrika, welches in den letzten zwei Jahren eine Heuschreckenplage sowie eine extreme Trockenheit durchgemacht hat. Für diese Region ist dieses zusätzliche Verteilungsproblem fatal und erklärt die dort aktuell herrschende Hungersnot. Zusätzlich führte die aktuelle Lage zu einer Verteuerung der Grundlebensmittel, was ebenfalls in den ärmsten Ländern der Welt zu Hunger führt.

Im Zusammenhang mit dem Thema «Welternährung» wird meistens viel über die Produktion gesprochen, wenig hingegen über Konsum. Doch tatsächlich haben wir auch ein massives Food Waste Problem – rund ein Drittel der Lebensmittel werden verschwendet und weggeworfen. In Europa gibt es pro Person 173kg Lebensmittelabfall pro Jahr, also rund 88 Millionen Tonnen! Eine Reduzierung der Lebensmittelverschwendung könnte einen Teil der Welthungers verringern.

Sprechen wir in diesem Zusammenhang über Produktion und Verteilung: Was wird uns in Zukunft erwarten?

Es gibt viel Potential für eine andere Nutzung der landwirtschaftlichen Fläche: Aktuell wird zu viel Fläche dazu genutzt, um Tiere zu ernähren. Diese Flächen könnten auch zur Produktion von Getreide direkt für die menschliche Ernährung verwendet werden, nach dem Motto «Feed no Food». Jedoch sind Tiere definitiv wichtig für unser System, denn aus ihnen werden hochwertige tierische Lebensmittel wie Milch, Eier und Fleisch gewonnen. Und ihr Mist kann wiederum zum Düngen der Felder genutzt werden. Somit helfen die Tiere uns, Kreisläufe zu schliessen, in dem sie Biomasse wie Gras oder Futterabfälle verwerten, welche nicht direkt für uns Menschen von Nutzen sind. Das bedeutet in anderen Worten, dass kein Tierfutter mehr vom Ackerland kommen sollte, sondern nur vom Grasland. Mit der gleichen Fläche an Ackerland, welche für den Futteranbau für eine einzige Kuh genutzt wird, könnten zehn Menschen pflanzlich ernährt werden. Konkret heisst das: Wir müssen nicht alle vegan werden, aber unser heutiger Konsum tierischer Produkte sollte sich in Europa in Zukunft deutlich reduzieren.

Welche Rolle kommt der biologischen Landwirtschaft in der Diskussion um die Ernährungssicherheit zu? 

Bio leistet einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherheit. Studien sprechen zwar insgesamt von durchschnittlich 20% weniger Ertrag bei biologischer Produktion. Aber wenn es um Ernährungssicherheit geht, sollte eine ganzheitliche Perspektive eingenommen werden: Das System Bio ist unabhängig von energieintensiven synthetischen Düngemitteln und Pestiziden, Futtermittel werden bevorzugt auf dem eigenen Hof produziert, so werden die Kreisläufe lokal geschlossen. Die geringere Abhängigkeit von externen Mitteln und Energie, der Aufbau der Bodenqualität sowie die Förderung von Biodiversität und Artenvielfalt machen Bio zukunftsfähig. Denn nur ein natürlich fruchtbarer Boden wird auch langfristig Ertrag liefern.

Welchen Weg müssen wir einschlagen, um mit den veränderten Bedingungen weiterhin nachhaltig produzieren können?

Es wird trockener und die Wetterlagen werden extremer. Jeder landwirtschaftliche Betrieb muss lernen, mit den sich verändernden Bedingungen klarzukommen und sich diesen anzupassen. Für viele gilt es, neue Wege einzuschlagen, wie zum Beispiel das Austesten neuer, resistenterer Sorten sowie die Züchtung widerstandsfähigeren Tierrassen. Weitere Massnahmen sind der Einsatz neuer Fruchtfolgen, die Weiterentwicklung betrieblicher Anbauverfahren wie regenerative Landwirtschaftsmethoden oder Agroforst. Sie alle sind Möglichkeiten, um den Boden und den Humus wiederaufzubauen, wodurch er mehr Wasser speichern kann und dadurch resistenter gegen Trockenheit wird.
Die Betriebe müssen resilienter werden, sie müssen mit Schocks umgehen können. Die meisten Leute verstehen unter dem Begriff resilient «robust», also die Möglichkeit so weiterzumachen wie bis anhin. Dabei sind Anpassungsfähigkeit und sogar Transformation auch eine Form der Resilienz. Doch leider wird die Transformation oftmals als ein Versagen interpretiert. Das ist besonders problematisch, denn mit dieser Einstellung fördert unsere Landwirtschaftspolitik den Status Quo. Sind es doch oft die Rahmenbedingungen, welche verhindern, dass Bäuerinnen und Bauern ihre Betriebe transformieren können, da sie im System gefangen sind. Wir sollten nicht vergessen, dass Bäuerinnen und Bauern Risiken eingehen, um unser Essen zu produzieren: Sie  investieren in Maschinen und Gebäude, die sie langfristig abschreiben müssen. Dann ist es nicht möglich, sofort anders zu produzieren. Es sollten kreativere Lösungen entwickelt werden, die es den Landwirtinnen und Landwirten ermöglichen, einen selbstbestimmten Weg hin zur Transformation einzuschlagen.

Wie werden wir uns in Zukunft ernähren? Was denken Sie über Essen aus dem Labor?

Ich kann mir vorstellen, dass es in Zukunft vermehrt hoch effiziente, landlose, industrielle und zirkuläre Produktionsmethoden geben wird, wie zum Beispiel die Vertical Farms. Auf der anderen Seite gibt es einen Trend zu Bio, echten Lebensmitteln und Regionalität. Bei Bio zum Beispiel ist der bodengebundene Anbau, die schonende Verarbeitung und die nachhaltige Wertschöpfungskette zentral. Ein bewusster Konsum mit weniger Food Waste und weniger tierischen Produkten könnte den Fussabdruck der Ernährung schon wesentlich senken.

Es wird in der Lebensmittelproduktion Gewinner und Verlierer geben, das muss zur Debatte kommen. Politik, Handel und Konsumierende müssen sich mit diesen Themen verstärkt auseinandersetzen. Wir müssen zusammen entscheiden: Welche Formen der Produktion sollen gefördert werden und wie nachhaltig wünschen wir uns die Lebensmittel? Aktuell kann jeder beim Einkauf bestimmen, welche Anbau- und Produktionsverfahren damit unterstützt werden.

Zur Person

Catherine Pfeifer hat nach ihrem Doktorat in Holland während zehn Jahren beim International Livestock Research Institute, ILRI, als Scientist in Kenia und Äthiopien gearbeitet. Seit 2019 ist sie als Senior Scientist sowie als Projektleiterin am FiBL. Seit 2022 ist sie Gruppenleiterin am Food System Science Departement, wo sie sich mit nachhaltigen Lebensmittelsystemen und der Rolle der Nutztiere beschäftigt.

Interview: Maya Frommelt und Catherine Pfeifer, Bilder: Thomas Alföldi, Archiv Bio Suisse, René Schulte,  zVg Catherine Pfeifer

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